Zunächst einmal, was ist passiert? Am 15. Mai fand auf dem Pferdemarkt die Demonstration „#FreePalestine“ statt, angemeldet wurde diese durch Ahmad Washaha für den Verein „Palästinensische Gemeinde in Oldenburg und Nordwest e.V.“. Aufgrund von antisemitischen Vorfällen, die in der Vergangenheit häufig im Rahmen solcher propalästinensischen Demonstrationen stattfanden, wurde von der Gruppe NIKA OL-WHV zu einem Gegenprotest aufgerufen. Diesem Protest haben auch wir uns angeschlossen, ebenso wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft Oldenburg sowie deren Jugendorganisation. In unserem Nachbericht haben wir über antisemitische Äußerungen, Vorfälle und einen Angriff auf die proisraelische Demonstration berichtet. In diesem Text soll eine Kritik der medialen Aufarbeitung formuliert und aufgezeigt werden, welche Konsequenzen angesichts dieses antisemitischen Aufmarschs für eine antisemitismuskritische und israelsolidarische Zivilgesellschaft in Oldenburg notwendig sind.
Die mediale Aufarbeitung der Demonstration wurde hauptsächlich durch drei Akteure durchgeführt: Wir, das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus Oldenburg (BGA), die Oldenburger Nachrichten (ON) und die Nordwest-Zeitung (NWZ). Die ON berichtete bereits am selben Tag ausführlich mit einem Textbeitrag und einem Video über die Proteste . Darin wurde die aggressive Stimmung, der „#FreePalestine“ Demonstration, die ihren Ausdruck durch die Behinderung der Pressearbeit, Beleidigungen, Enthauptungsgesten und antisemitische Sprechchöre und Schilder fand. Ebenfalls wurde durch die ON bereits am Samstag, den 15. Mai, über den Angriff mit Pfefferspray durch Teilnehmer der „#FreePalastine“ Demonstration auf Polizist*innen berichtet. Auch die geringe Präsenz der Polizei und ihre sichtliche Überforderung waren Teil der Berichterstattung durch die ON. Am folgenden Tag veröffentlichten wir den bereits erwähnten Nachbericht, dazu kamen durch unabhängige Fotojournalist*innen veröffentlichte Bilder und Videos. Es lagen also bereits am Montag zahlreiche Informationen über den Charakter der propalästinensischen Veranstaltung vor, sowie über die Gewaltbereitschaft eines größeren Teils der Teilnehmer*innen.
Am Montag begann die NWZ über das Wochenende zu berichten. Überraschenderweise jedoch nur mit zwei knappen Absätzen, in denen weder die klar antisemitischen Sprechchöre und Schilder, noch der Angriff auf Polizist*innen ihren Platz fanden. Stattdessen wurde von „provokanten Szenen“ geschrieben, scheinbar übernommen von der Polizei, um von ihrer Fehleinschätzung des von der Veranstaltung ausgehenden Gewaltpotenzials abzulenken. Wieso solche Lücken in der Berichterstattung der NWZ vorlagen, obwohl durch verschiedene Quellen bereits bekannt war, was an diesem Tag passiert ist und ihr diesbezüglich unsere ausführliche Pressemitteilung vorlag, bleibt unklar.
An dem darauffolgenden Dienstag (18. Mai) rang sich die NWZ dann doch noch dazu durch, größer über den Samstag zu berichten und gab dem Thema eine Seite in ihrer Printausgabe. Der u.a. von uns sowie der DIG geäußerten, notwendigen Kritik an der antisemitischen propalästinensischen Veranstaltung wurde hier zwar etwas mehr Raum geboten, jedoch wurde im gleichen Beitrag dem Veranstalter Ahmad Washaha unkritisch eine Plattform geboten die eigene, aggressiv auftretende Veranstaltung runter zu spielen. Laut Washaha wären die israelsolidarischen Demonstrierenden an der aggressiven Stimmung durch ihre Provokationen Schuld gewesen. Dass das Zeigen der israelischen Fahne sowie die Forderung „Gegen jeden Antisemitismus“ eine solche Provokation darstellt, dass den israelsolidarischen Demonstrant*innen durch Enthauptungsgesten mit dem Tod gedroht wird und einige der propalästinensischen Teilnehmer sich derart provoziert fühlten, dass sie die Polizist*innen angreifen mussten, ist eine Aussage, die die NWZ scheinbar unhinterfragt und ohne Weiteres abdrucken wollte. Weiter konnte der Veranstalter sich mit einem Lippenbekenntnis frei von Antisemitismus sprechen, er habe „kein Problem mit Juden.“ und sogar „jüdische Freunde und Bekannte“ hätte er, auch mit der Hamas wolle er nichts zu tun haben und Islamist wäre er auch nicht. Dass dies einen nicht von Antisemitismus freispricht und kein Beweis dafür sein kann, dass nicht andere Teilnehmer*innen ideologisch auf einer Linie mit Hamas oder anderen islamistischen Organisationen sein können, muss hier nicht weiter erläutert werden. Viel eher sollte der Blick auf die Fakten gerichtet werden: Es wurden antisemitische Sprüche auf seiner Veranstaltung gerufen („Kindermörder Israel“), es wurde mit Symbolen des Dschihad gearbeitet (Enthauptungsgesten und „Allahu Akbar“-Rufe) und Ahmad Washaha hat visuell auf Facebook sehr klar gemacht, wie er und der Verein, den er vertritt, zu dem Existenzrecht Israels stehen. Obwohl diese Informationen frei zugänglich für jeden im Internet abrufbar waren und sind, zeigte sich die NWZ nicht dazu in der Lage, die getroffenen Aussagen einzuordnen.
Ein weiterer Artikel auf dieser Seite beschäftigte sich mit der Stimmung auf den Demonstrationen und dem Handeln der Polizei. Statt jedoch den anwesenden Journalist*innen hier Raum zu geben und zu erläutern was passiert ist, wie sich die Teilnehmer*innen der beiden Veranstaltungen verhalten haben, wie das Vorgehen der Polizei eingeschätzt wird, oder welchen Anfeindungen sie von der „FreePalestine“-Demo ausgesetzt waren, wird der Polizei erneut die Möglichkeit gegeben unhinterfragt ihre Version der Ereignisse zu schildern. Zwar gibt die Polizei indirekt zu, den Einsatz am Wochenende unterschätzt zu haben und die NWZ lässt hier einmal einen Funken an kritischer Berichterstattung zu, indem sie das abblockende Verhalten des Pressesprechers thematisiert, bei der entscheidenden Frage siegt jedoch die Naivität der NWZ. Die Polizei gibt am Dienstag zu, dass es zu einem Angriff auf Beamt*innen gekommen ist, ist aber anscheinend nicht dazu in der Lage einzuschätzen von wem sie angegriffen wurde. Obwohl der NWZ zu diesem Zeitpunkt die Lage durch die Videoaufnahmen und der Berichterstattung aus verschiedenen Quellen bekannt sein müsste, wird die falsche Aussage der Polizei übernommen, statt die Realität abzubilden und die Angreifer klar zu benennen. Wie auf diesem Video zu sehen, trägt mindestens einer der Angreifer die Kufiya, außerdem geben sie sich durch „Palästina“- und „Kindermörder Israel“-Rufe klar als Teilnehmer der „#FreePalestine“ Demonstration zu erkennen. Außerdem ist kritisch anzumerken, das Washaha im Artikel unwidersprochen eine Parallele zwischen Israel und dem südafrikanischen Apartheidsystem aufmachen darf. Damit verfälscht er nicht nur grob die Wahrheit, sondern dämonisiert Israel als angeblich rassistischen Staat, daher muss eine solche Aussage von einer seriösen Berichterstattung unbedingt eingeordnet und als antisemitisch benannt werden.
Abgerundet wird die Printseite der NWZ Ausgabe vom 18. Mai durch die Lippenbekenntnisse der SPD und CDU Oldenburg und der Meinung von Roland Neidhardt. Beide Parteien zeigen sich entsetzt und beteuern, dass sie entweder bereits eine klare Position hätten oder dass jetzt etwas getan werden müsste. Das ist erstmal zu begrüßen, aber eine Erklärung, wieso nichts getan wurde und was denn die klare Position bringt, wenn daraus nichts folgt, bleiben beide Parteien bis heute schuldig. Roland Neidhardt schlägt währenddessen einen ganz anderen Ton an, für ihn ist der Schuldige bereits gefunden: der Jude, in diesem Fall Benjamin Netanjahu. Die Raketenangriffe der terroristischen Hamas auf Zivilist*innen werden von ihm durch die Innenpolitik Israels gerechtfertigt. Auch kann er verstehen, warum die Menschen auf die Straßen gehen, zumindest auf der palästinensischen Seite. Über die israelischen Opfer (nicht mal über die Muslimischen) verliert er kein Wort. Stattdessen wird ein Protest, der sich gegen Antisemitismus auf deutschen Straßen richtet als extremistisch verunglimpft. Es bleibt der üble Nachgeschmack, dass in Deutschland bezeichnenderweise jemand wie Neidhardt, der sich auf die Seite von ausgesprochenen Menschenfeinden wie Hamas und Co. schlägt, dafür geehrt wird, sich für die Versöhnung zwischen Israel und Deutschland einzusetzen.
Wie kann diese Berichterstattung von Seiten der NWZ nun eingeordnet werden?
Die NWZ ist ihrer journalistischen Pflicht offensichtlich nicht nachgekommen, statt von Beginn an alle vorliegenden Informationen in die Berichterstattung mit einfließen zu lassen und ihren Leser*innen einen Gesamtüberblick über das Geschehen am Samstag zu geben, wurden Fakten zurückgehalten. Auch wenn dieser Fehler am darauffolgenden Tag mit einer breiteren Berichterstattung teilweise korrigiert wurde, bleibt in einem Großteil der Texte eine unkritische Übernahme von Aussagen erhalten. Es wurden zwar unterschiedliche Standpunkte aufgeführt, jedoch wurden diese von der NWZ nicht eingeordnet. Damit meinen wir, dass offensichtlich falsche Aussagen oder das Herauslassen von Informationen durch Polizei und Anmelder der „#FreePalestine“ Demonstration nicht von der NWZ gekennzeichnet wurden. Die NWZ hätte an diesen Stellen selbstständig recherchieren müssen, um ihren journalistischen Pflichten nachzukommen. Dadurch trägt die NWZ dazu bei, einen antisemitischen und gewalttätigen Protest in Oldenburg als legitim darzustellen. Diese Form der Berichterstattung, Veranstalter*innen und Polizei unhinterfragt zu Wort kommen zu lassen, mag ja bei Unfällen, dem Fußballspiel des Dorfvereins oder der Müllsammelaktion irgendeines Kleingärtnervereins angemessen sein, bei politischen Auseinandersetzungen zeigt dies jedoch nur die Unprofessionalität und Provinzialität der Redaktion der Nordwest Zeitung. Eine kritische Berichterstattung, die das „wie“ und „warum“ von Akteur*innen hinterfragt, ist besonders in Zeiten, in denen sich die Gesellschaft polarisiert unabdingbar und die Hauptaufgabe von gutem Journalismus, der nicht bei „es ist etwas passiert“ stehen bleibt.
Da es in diesem Text um die Kritik der medialen Aufarbeitung des 15. Mai geht, soll hier noch einmal auf einen sehr peinlichen Fehler der NWZ hingewiesen werden. Das Bündnis, das vor einer Bedrohung von Juden warnt, heißt Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus Oldenburg, nicht „Bündnis für Antisemitismus“. Es ist fast witzig, wenn berichtet wird, dass ein „Bündnis für Antisemitismus […] große Bedrohung für Juden“ sieht, das Lachen bleibt aber im Hals stecken, wenn einem der Ernst der Lage bewusst ist. Diesem Ernst der Lage scheint sich die NWZ nicht bewusst zu sein, sonst wären ihr die Form- und Inhaltlichen-Fehler, die hier aufgezeigt wurden, nicht unterlaufen. Immerhin wurde die falsche Bezeichnung unseres Bündnisses am folgenden Tag berichtigt und sich entschuldigt. Eine Berichtigung und Entschuldigung wäre allerdings bezüglich ihrer kompletten Berichterstattung zur Demonstration notwendig.
Was bedeutet das für eine israelsolidarische und antisemitismuskritische Zivilgesellschaft in Oldenburg?
Der 15. Mai hat deutlich gezeigt, dass es auch in Oldenburg möglich ist, in kürzester Zeit eine große Menge an sich antisemitisch äußernden Menschen zu mobilisieren. Neben dieser propalästinensischen Demo können auch die seit einem Jahr fast ungestört laufenden, verschwörungstheoretischen Querdenken-Veranstaltungen als Indikator für ein gestiegenes Potential für antisemitische Denkmuster in Oldenburg und Umzu dienen. Dies verlangt nicht erst seit dem Beginn der Pandemie oder des erneuten Aufflammens des Nahostkonflikts Handlungsbedarf. Antisemitischen Positionen muss klar widersprochen werden, Demos gehören verboten, Veranstaltungen müssen die Räume entzogen werden und wo dies nicht möglich ist, muss ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis einen Gegenprotest auf die Straße bringen, um klare Grenzen aufzuzeigen. Es ist nirgends hinnehmbar, dass Antisemit*innen Fuß fassen und ihre menschenverachtenden Vorstellungen in die Öffentlichkeit tragen können. Das bedeutet jedoch auch, dass wir den politischen Akteur*innen in den Entscheidungspositionen Druck machen müssen zu handeln und nicht nur im Anschluss ihr Bedauern kundzutun. Handeln ist jetzt gefragt, denn der Anschlag von Halle hat gezeigt, wie schnell diese Denkmuster in Vernichtungswillen umschlagen können.